Wenn es um die Indie-Games in der Videospielgeschichte mit dem größten Impact geht, könnte kein Artikel der Welt geschrieben und kein Video auf YouTube geschnitten werden, ohne Braid zu nennen. Es war der erste Sommer of Arcade im August 2008, den Microsoft für das "Xbox Live Arcade"-System ins Leben rief. Bereits Wochen vor dem Release der Spiele, die nach und nach veröffentlicht wurden, schaltete man Werbung. Unter den angekündigten Spielen waren klangvolle Namen wie Castle Crashers, Geometry Wars: Retro Evolved 2 und Bionic Commando Rearmed. Aber eben auch ein in Aquarelloptik gehaltenes Spiel namens Braid war dabei und bekam - wie damals üblich - eine Demo spendiert. Am 06. August 2008 erfolgte dann der Release.
Der Erfolg war markerschütternd. Braid kassierte einen Metascore von 93% auf metacritic.com und verkaufte sich in der Launchwoche 55.000 mal - ein hoher Wert für ein digital vertriebenes Spiel zu dieser Zeit. Bis 2016 generierte es über 4 Millionen Dollar und wurde zusätzlich auch auf PS3 sowie PC veröffentlicht; sogar verschiedene Retailversionen wurden vermarktet, was damals keine Selbstverständlichkeit für ein initial ausschließlich digital veröffentlichtes Independent-Spiel war.
Zusätzlich trat Braid eine Welle an Puzzle-Plattformern los, die jeweils mit einem ganz eigenen Stil und kreativen Mechaniken auftrumpfen konnten. Die Rede ist von Limbo, The Misadventures of P.B. Winterbottom, The Bridge, FEZ, The Swapper, Inside, Little Nightmares sowie vielen weiteren Spielen, die eine Art "Braid-DNA" in sich tragen: Eine Spielfigur löst in einem Plattformer in überwiegender 2D-Ansicht mittels individueller Fähigkeiten Rätsel. Mal kann die Welt als solches gedreht werden, mal können beliebig viele Spielfiguren geklont werden, mal kann die Perspektive gewechselt werden und manchmal ist die Zeit selbst manipulierbar. So auch bei Braid.
In Braid spielt ihr einen Mann namens Tim, der im Anzug mit roter Krawatte auftritt und (so erscheint es vordergründig) seine Prinzessin für sich zurückgewinnen möchte. In vielen Textblasen vor dem Betreten der Spielwelten wird kryptisch angedeutet, welche Fehler Tim in der Vergangenheit beging, so dass sich die Prinzessin von ihm abwendete. Dass die Prinzessin nur eine Metapher ist und es vielmehr um Reue in einem gänzlich anderen Kontext geht, wird erst im Laufe des Spieles klarer, allerdings auch nie komplett aufgelöst. Braid bietet viel Raum zur Interpretation.
In jeder der sechs Welten kommt eine andere Spielmechanik zum Tragen, um die Rätsel zu lösen. Dabei werden Puzzleteile gesammelt, die am Ende des Weges jeweils ein Gemälde ergeben. Die Zeit kann Tim grundsätzlich zurückspulen. Was die unterschiedlichen Spielmechaniken betrifft, so platziert er beispielsweise in einer Welt eine Kugel auf dem Boden, die alles um sie herum massiv verlangsamt. In einer anderen Welt kann Tim seinen Schatten von seinem Körper lösen, der dann bereits getätigte Bewegungen nochmals absolviert. Rund um diese Mechaniken sind alle Puzzle im Spiel aufgebaut, manche scheinbar einfach, andere hochkomplexe Denksportaufgaben. Zudem muss man in vielen Bereichen um die Ecke denken und Gegenstände oder Gegner ins Spiel mit einbeziehen, die man in erster Instanz nicht als Teil des Rätsels erkennt.
Das ganze Spiel präsentiert sich in der bereits eingangs erwähnten Aquarelloptik, welche in der Anniversary Edition nochmals deutlich aufgewertet wurde. Alles ist schärfer und höher aufgelöst, die Farben sind intensiver und die Vorder- sowie Hintergründe sind wesentlich detaillierter als im Original von 2008. Während des Spielens kann jederzeit direkt zwischen Originalgrafik und neuer Grafik umgeschaltet werden, um jeden Winkel der Level vergleichen zu können.
Der Kopf hinter der Anniversary Edition ist der gleiche wie hinter dem Original: Jonathan Blow, 1971 geborener Spieleentwickler aus den USA. Wer ihn nicht von Braid kennt, wird vermutlich spätestens mit The Witness von 2016 seine Bekanntschaft gemacht haben. Blow gilt als egozentrisches Genie und arbeitet überwiegend alleine an seinen Projekten. Für die grafische Gestaltung von Braid erhielt er jedoch zuerst Unterstützung durch Edmund McMillen, dem Schöpfer von Super Meat Boy. Dessen Zeichnungen wurden aber verworfen und gegen die von David Hellman ersetzt. Wir hätten also fast einen Tim in Super-Meat-Boy-Optik bekommen.
Viele der Geschichten und Anekdoten rund um Braid können in einem Kommentarbereich durch Video, Audio und teils lange Texte erfahren werden. Der Kommentarbereich ist neu in der Anniversary Edition und kann in Tims Haus, welches eine Art Hub darstellt, über das Badezimmer erreicht werden. In diesem Bereich werden praktisch alle Hintergründe zu dem Spiel beleuchtet: Wieso wurden Designentscheidungen so getroffen und welche Ideen wurden aus welchen Gründen angepasst oder gar verworfen? Ein sehr intimer Einblick in die Entwicklung von Indie-Spielen wird geboten, den man sich nicht entgehen lassen sollte. Besonders interessant ist der Fakt, dass der Kommentarbereich spielend erlebt werden kann - das Spiel lässt sich sozusagen vom Entwickler kommentiert durchspielen. Auch haben es komplett neue, bzw. aus der Entwicklung des Originalspieles gestrichene Level in die Anniversary Edition geschafft. Grandios!
Musikalisch wird das Spiel von einem klassischen, melancholisch anmutenden Soundtrack getragen, der überwiegend aus Instrumenten wie der Harfe und dem Cello besteht. Die Lieder wurden schon im Original verwendet, sind nun aber in höherer Qualität eingespielt. Ebenso wurden manche Soundeffekte deutlich verbessert hinsichtlich ihrer Akustik.
Zusammengefasst bietet Braid Anniversary Edition zwei Grafikmodi, einen neuen Kommentarbereich mit einem Haufen neuer Level, eine Hintergrundgeschichte, die vielschichtiger ist als anfangs angenommen, und einige "World-beyond-Walls"-Erlebnisse. Wer ganz intensiv sucht und Grenzen überwindet, wird in Braid Dinge zu Tage fördern, die anderen für immer verborgen bleiben.
Für 20€ könnt ihr diesen absoluter Klassiker auf praktisch jeder Plattform nachholen - oder nochmals erleben. Der Kauf lohnt sich in beiden Fällen definitiv.