Heute gibt es mal eine etwas andere Art von Review. Das liegt daran, dass das kürzlich veröffentlichte What Remains of Edith Finch der Art von Spiel angehört, die man unbedingt komplett ohne jegliche Vorkenntnisse genießen sollte. Deshalb werde ich versuchen, hier eine möglichst spoilerfreie Kritik des Spiels zu verfassen. In Folge dessen wird es vielleicht ein wenig vager als sonst.
Zu allererst werde ich aber nicht um den heißen Brei herumreden: Das von Giant Sparrow (The Unfinished Swan) entwickelte What Remains of Edith Finch ist ein Spiel, das zumindest momentan noch stolze 19,99€ in den gängigen digitalen Stores kostet. „Aber das ist doch kein außergewöhnlich hoher Preis“, mag jetzt der ein oder andere entgegen. Und das stimmt auch. 19,99€ für ein hochwertig produziertes Adventure in hübscher 3D-Optik sind alles andere als ein Wucherpreis. Der Punkt, an dem die meisten Leute die Nase rümpfen werden, ist der, an dem sie hören, dass das Spiel nur etwa zwei Stunden lang ist.
Normalerweise würde ich davon absehen, den Preis eines Spiels so stark in eine Kritik einfließen zu lassen. Aber in diesem speziellen Fall muss ich gleich vorweg explizit erwähnen, dass der Preis absolut nicht so unangemessen ist, wie er auf den ersten Blick erscheinen mag. Und ich kann auch genau sagen, wieso.
Mehr als nur Gone Home in neuem Gewand
Die grundlegende Prämisse des Spiels ist eine ähnliche wie beim Genre-Kollegen Gone Home, das im Jahr 2013 diverse Preise für seine bahnbrechenden Innovationen im Storytelling für Videospiele bekommen hat. Auch hier begibt man sich in den Schuhen einer jugendlichen Protagonistin auf die Rückkehr in ihre alte Heimat. In diesem Fall ist dies das Haus der Familie Finch. Einer Familie, von der im Volksmund behauptet wird, dass sie unter einem Fluch leidet, der nach und nach sämtliche Familienmitglieder mit einem frühen und tragischen Tod beglückt. Dass dieses Gerücht nicht aus der Luft gegriffen ist, wird klar, als der Spieler erfährt, dass die junge Protagonistin, Edith Finch, das letzte noch lebende Familienmitglied ist und in Folge dessen das Anwesen ihrer Großmutter erbt.
Dieses Anwesen ist der aufregende Schauplatz des Spiels. Interessant wird das große Haus dadurch, dass hier sämtliche Mitglieder der Finch-Familie ihr Leben lang unter einem Dach gewohnt haben. Sobald ein neues Kind geboren wurde, wurde schlicht ein neues Zimmer ans bestehende Haus angebaut. Dadurch, dass diese Anbauten teilweise eher zweckmäßig ans bestehende Haus herangezimmert wurden, verströmt das Äußere des Hauses ein märchenhaftes, beinahe schon surreales Gefühl.
Auch innerhalb des Hauses sorgt die unkonventionelle Architektur für ein Leveldesign, das sich äußerst stark von dem eines Gone Home abhebt. An jeder Ecke gibt es geheime Mechanismen, Geheimgänge oder sonstige ausgefallene Einrichtungsmerkmale zu entdecken.
Die Finch-Familie bestand also offensichtlich aus ziemlichen Eigenbrötlern. Und dementsprechend ist auch das Zimmer jedes einzelnen Familienmitglieds auf äußerst aufregende und exzentrische Weise gestaltet.
Ediths Rückkehr in ihre Heimat geschieht allerdings nicht nur aus sentimentalen Gründen.
Ihre wahre Intention besteht darin, die Geheimnisse zu erforschen, die hinter dem Tod jedes einzelnen Familienmitglieds stecken. Während sie nämlich weiß, dass bisher sämtliche ihrer Angehörigen auf außergewöhnliche Weise verstorben sind, hat ihre sie übermäßig beschützende Mutter ihr nie verraten, woran oder weshalb das Leben ihrer Ahnen so ein frühes Ende gefunden hat. Jetzt, wo Edith die rechtmäßige Erbin des Hauses ist, steht ihr aber nichts mehr im Wege, all den Geheimnissen der Vergangenheit ihrer Familie nachzugehen.
Der Spieler erlebt die Geschichte in typischer „Walking Simulator“-Manier aus der Ego-Perspektive der jugendlichen Protagonistin. Das Geschehen wird dabei stimmig im inneren Monolog von Edith kommentiert. (Ich werde nachfolgend übrigens statt „Walking Simulator“ den weniger despektierlichen Begriff „Immersive Adventure“ verwenden.)
Ist das noch ein Walking Simulator?
Der Clou an der Sache und gleichzeitig der Aspekt, in dem sich What Remains of Edith Finch am stärksten von anderen Adventures seiner Art unterscheidet, ist, dass das Geschehen nicht nur aus Ediths eigener Perspektive geschildert wird.
Wie bereits erwähnt, geht Edith dem Schicksal ihrer verstorbenen Angehörigen nach. Und jedes Mal, wenn sie auf irgendeine Weise (beispielsweise durch einen Tagebucheintrag) über den Tod eines Familienmitglieds erfährt, wechselt die Szene in einem teils drastischen Bruch von Ediths Perspektive zur Perspektive des betroffenen Familienmitglieds.
Nun befindet sich der Spieler also in den Schuhen des verstorbenen Angehörigen und erlebt mit eigenen Augen dessen Tod mit. Das mag erstmal etwas morbid klingen, allerdings hat das Spiel einen vergleichsweise unbeschwerlichen Ton für diese gewichtige Thematik. Die Szenen, in denen Ediths Ahnen ihren Tod finden, gleichen eher kurzen Fabeln oder Parabeln, die meist auf einer beinahe schon ironischen Note enden.
Das Besondere an diesen Exkursen in die Vergangenheit von Ediths Familie ist, dass sie sich nicht nur in ihrem Setting, sondern auch in ihrem Gameplay mitunter gewaltig von den typischen Immersive Adventure-Konventionen unterscheiden. Und diese Änderungen im Gameplay wirken nie aufgesetzt und sind nie willkürlich ausgewählt. Stattdessen greifen Erzählung und Gameplay hier Hand in Hand. Die Geschichte wird durch die Anteilnahme des Spielers deutlich intensiver und nahbarer, als sie es als simple Cutscene wäre.
Diese kurzen Spielschnipsel, die sich vom Kern-Gameplay entfernen, ermöglichen den Entwicklern, ihrer Kreativität komplett freien Lauf zu lassen. Dadurch entstehen Momente, wie man sie noch nie zuvor in anderen Spielen gesehen hat und die jeden Spieler garantiert das ein oder andere Mal mit offenem Mund vor dem Bildschirm sitzen lassen werden. Die Verlockung, hier jetzt dutzende Beispiele für solche Momente zu nennen, ist extrem groß. Allerdings zeichnen sich viele der Höhepunkte des Spiels vor allem durch ihren Überraschungsfaktor und das eigene Erleben aus. Deswegen sei an dieser Stelle nur ein grobes Beispiel erwähnt:
Es gibt eine Stelle im Spiel, an dem ein Charakter dazu gezwungen ist, eine monotone Tätigkeit auszuüben. Beim Ausüben dieser Tätigkeit gibt sich der Charakter schließlich einem Tagtraum hin, der die monotone Tätigkeit zunehmend überlagert. Sowohl die monotone Arbeit, als auch der Tagtraum werden vom Spieler parallel kontrolliert. Der Controller wird also in der Mitte geteilt und jede Controllerhälfte steuert jeweils eine der beiden Situationen. Auf diese Weise wird das Gefühl des Abdriftens und Tagträumens erstaunlich gut vermittelt und die Erzählung profitiert vom kreativen Gamedesign. Und das war, wie gesagt, nur ein Beispiel aus der Fülle von aufregenden Ideen, die das Spiel bietet.
Durch diesen unkonventionellen Gameplay-Mix könnte What Remains of Edith Finch das erste Immersive Adventure sein, das selbst viele Walking Simulator-Gegner begeistern könnte. Doch auch das Kern-Gameplay, das ganz klassisch aus Ediths Perspektive erfolgt, ist deutlich fokussierter und stringenter als bei vielen Genre-Kollegen.
Vor allem Spiele wie Dear Esther oder Everybody’s Gone to the Rapture wurden häufig für ihre extrem langsame Spiel- und Erzählgeschwindigkeit kritisiert. Selbst Gone Home, zu dem What Remains of Edith Finch noch die meisten Parallelen aufweist, setzte voraus, dass der Spieler geduldig und sorgfältig jeden Raum nach möglicherweise Plot-relevanten Objekten absucht.
What Remains of Edith Finch bietet im Gegensatz dazu aber außerordentlich wenige Objekte, mit denen der Spieler innerhalb des Finch-Anwesens interagieren kann. Die Entwickler beschränken sich hier vor allem auf Objekte, die fürs Voranbringen der Geschichte notwendig sind. Dadurch bekommt die Reise durchs Anwesen der Finchs ein angenehmes Tempo und man verweilt nie allzu lange in einem bestimmten Raum, weil man hier nicht jede einzelne Schublade nach etwaigen Notizzetteln durchforsten muss.
Auch die elegante Spielerführung ist ein Aspekt des Spiels, der dem Pacing außerordentlich guttut. Die außergewöhnliche Architektur und Einrichtung des Hauses vermittelt auf natürliche und unaufdringliche Weise stets perfekt, wohin der Spieler sich als nächstes begeben muss. Sich in diesem Spiel zu verlaufen, ist praktisch unmöglich. Man fühlt sich aber auch zu keiner Zeit in irgendeiner Weise an die Hand genommen.
Ein weiterer genialer Kniff der Entwickler sind die schwebenden Untertitel des Spiels. Wann immer sich ein Charakter im Spiel zu etwas äußert, taucht der dazugehörige Untertitel nicht wie üblich am unteren Bildschirmrand, sondern irgendwo in der Szenerie des Spiels auf. Hier ist die Schrift nicht nur kunstvoll und stimmig eingebunden, sondern hilft auch dabei, die Augen des Spielers auf subtile Weise in die Richtung des nächsten Ziels zu lenken. Ein netter Nebeneffekt ist, dass die fliegenden Buchstaben noch weiter die märchenhafte Stimmung des Spiels verstärken.
Ein Auge fürs Detail
What Remains of Edith Finch ist für seine Preisklasse ein äußerst ansehnliches Spiel. Wer das Spiel gerade neu startet, mag aber erstmal ein wenig schockiert sein. Die technische Performance in dem Außenareal, in dem das Spiel beginnt, lässt (zumindest auf der Standard-PS4) ein wenig zu wünschen übrig. Hat man diesen etwa drei Minuten langen Abschnitt aber erstmal hinter sich gebracht, wird klar, dass die Stärken des Spiels in der Darstellung der Innenräume des Hauses liegen. Auch die späteren Abschnitte, in denen man kurze Ausflüge in die Außenwelt macht, fühlen sich lange nicht so technisch träge an, wie der Eröffnungsabschnitt. Der erste Eindruck ist hier also definitiv nicht aussagekräftig fürs gesamte Spiel.
Vor allem in den Innenräumen sieht das Spiel nämlich äußerst hübsch aus. Das liegt vor allem an der extremen Detailverliebtheit der Entwickler, die jedem Raum mittels unzähliger einzigartiger Objekte seine ganz eigene Atmosphäre verliehen haben. Grundsätzlich ist das Spiel visuell relativ abwechslungsreich, was erneut der Eintönigkeit entgegenwirkt, die bei einigen Genre-Verwandten schnell entstehen kann.
Komplett animierte menschliche Charaktermodelle gibt es übrigens nicht. Stattdessen umgehen die Entwickler elegant Momente, in denen es nötig gewesen wäre, diese darzustellen. So sieht man über den gesamten Spielverlauf keinen einzigen anderen Charakter frontal und aus der Nähe. Allerdings fühlt es sich auch nie so an, als würde dies dem Spiel in irgendeiner Weise schaden.
Sämtliche Figuren im Spiel sind übrigens hervorragend in Englisch vertont. Vor allem Protagonistin Edith weiß, trotz ihres beinahe konstanten inneren Monologs, zu punkten, ohne jemals nervig zu werden. Das ist nicht zuletzt dem Writing geschuldet, das sich durchweg auf hohem Niveau bewegt und das Spielgeschehen stets auf authentische und stimmige Weise vermittelt.
Das Spiel bietet außerdem deutsche Texte. In diesem Fall werden die zuvor erwähnten schwebenden Texte übersetzt. Das führt dazu, dass man, sollte man der englischen Sprache absolut nicht mächtig sein, dazu gezwungen ist, die Kamera immer in die Richtung des dargestellten Textes zu bewegen. Das ist absolut kein Problem, da die Texte meist eh in der aktuellen Blickrichtung auftauchen und auch noch für einige Zeit an ihrer Stelle verweilen. Aber ich denke, das ist trotzdem ein Punkt, der in einer deutschen Kritik zum Spiel kurz erwähnt werden sollte.