Als vor gut vier Jahren bei uns das Japanrollenspiel Xenoblade Chronicles auf der bereits dahinsiechenden Wii erschien, war bei vielen Gamern das Erstaunen groß. Das von Monolith Software entwickelte Spiel entpuppte sich als ein episches Rollenspiel japanischer Bauart, das in einer riesigen Welt die Geschichte von Shulk und seinen Freunden erzählte, die in den epischen Konflikt zwischen den Völkern der Homs und Mechon hineingeraten – inklusive mitreißenden Videosequenzen und dramatischen Storywendungen. Nicht zuletzt wegen der spannenden Story gilt Xenoblade Chronicles als eines der besten japanischen Rollenspiele der letzten Generation. Umso größer waren die Erwartungen, als Nintendo mit Xenoblade Chronicles X den nächsten Teil der Xenosaga (hue hue) ankündigte. Auch wenn der Name fast gleich ist, die beiden Spiele könnten unterschiedlicher nicht sein. Wer Xenoblade wegen der Geschichte geliebt hat, könnte von Xenoblade Chronicles X sehr enttäuscht werden. Warum das Spiel trotzdem ein großartiges Rollenspiel ist, und wer lieber die Finger von diesem Spiel lassen sollte, das erfahrt ihr bei uns im Test.
Rollenspiel auf Steroiden
Wenn man Xenoblade Chronicles X mit drei Worten beschreiben müsste, dann wären das eindeutig mehr, mehr und….naja…mehr. Es gibt wenige Spiele in der Gamingwelt, die mehr Inhalt besitzen und vor Kraft kaum laufen können. Und bereits am Anfang lässt das Spiel einen das auch ziemlich hart spüren. Nach einem kleinen Tutorialabschnitt wird der Spieler in eine Welt voller Möglichkeiten entlassen. Das Spiel öffnet sich in rasanter Geschwindigkeit und gerade am Anfang liegen Begeisterung und Frustration oft nah beieinander. So steht ihr nach ein bis zwei Stunden ziemlich verloren in der Großstadt Neo Los Angeles herum, dem letzten Bollwerk der Menschheit auf einem fremden Planeten und Hub für eure zahlreichen Unternehmungen, und wisst nicht wirklich, was ihr nun machen sollt. Sonden verbauen und so die einzelnen Kontinente erschließen? Die Mainstory voranbringen? Sich doch einer anderen Division anschließen? Einen Nebenjob, eine Nebenquest oder doch lieber eine Harmoniemission annehmen? Gerüchten nachgehen oder doch lieber in eine der vielen Waffenfirmen investieren? Diese tolle Waffe jetzt craften lassen, oder warten bis zum nächsten Klassenwechsel? Online mit anderen Spielern auf Monsterjagd gehen? Macht es Sinn jetzt bereits in Talente oder Techniken zu investieren? Vielleicht aber doch lieber mal den Punkt Kampfrufe ansehen? Ihr habt keine Ahnung worum es gerade geht? Gut so, denn genau so werdet ihr euch in den ersten Stunden bei Xenoblade Chronicles X fühlen. Dieses Spiel möchte erobert werden, es erfordert eine Menge Einarbeitungszeit und versteckt viele Gameplaymechanismen im Handbuch…ja, ihr habt richtig gelesen, eine Lektüre des Handbuches ist bei diesem Spiel fast unumgänglich. Umso ärgerlicher ist, dass Nintendo hier nur auf eine digitale Anleitung setzt.Diese große Vielfalt hat allerdings einen hohen Preis – eine klassische, stringent erzählte Mainstory rückt klar in den Hintergrund. Stattdessen wird sie segmentiert erzählt und so in die Welt eingebunden. Was bedeutet das genau? Xenoblade Chronicles X ist kein Spiel, bei dem die Geschichte einfach so durchgespielt werden kann. Insgesamt gibt es ein Dutzend Hauptmissionen, welche aber diverse Voraussetzungen erfordern. So muss zum Beispiel vorher der Planet zu einem gewissen Anteil erforscht sein, oder es wird ein gewisses Level benötigt, um die Mission annehmen zu können. Dadurch kommt es immer wieder zu einer längeren Unterbrechung der Hauptgeschichte. Die Story an sich ist dabei durchaus brauchbar und erzählt diverse Hintergründe des Universums und bietet interessante Charaktere. Allerdings sind die Missionen teilweise auch ziemlich kurz und sehr hölzern inszeniert. Reine Storygamer mit Hang zum großen Epos werden hier eher nicht glücklich werden. Der eigentliche Star dieses Spiels ist nämlich nicht die Story, sondern die unfassbar tolle Welt. Diese lässt sich in zwei Teile trennen: Da wäre zum einen die Stadt Neo Los Angeles, auch NLA genannt, und zum anderen der Planet Mira. In NLA nehmen wir Quests an, rekrutieren unsere Begleiter, verbessern unsere Ausrüstung und hören uns nach Gerüchten um, die uns Neuigkeiten über unsere uns noch so fremde neue Heimat vermitteln. Dabei verändert sich die Stadt mit der Weile mehr oder weniger stark. So kommen z.B. mit manchen (Neben-)Quest diverse neue Bewohner in die Stadt, die neben neuen Handelswaren auch zu allerlei neuen Verwicklungen führen. So machen sich manche Menschen auf einmal Gedanken darüber, ob die neuen Bewohner die Gesetze der Menschen auch akzeptieren werden oder das nette Café an der Ecke wird auf einmal zum Schauplatz rassistischer Verhandlungen, da hier nur Menschen bedient werden, weil der Rest ja nur Krankheiten verbreiteten würde. Diese kleinen Geschichten spielen sich dabei nicht nur erschreckend non-fiktional, sie sorgen auch dafür, dass NLA nicht nur ein HUB zum Arbeiten ist, sondern eine lebendige Stadt, die sich entwickelt und verändert – trotz der sehr hölzernen Inszenierung. Einer der wichtigsten Gründe, regelmäßig auf Entdeckungstour in NLA zu gehen, sind aber die sogenannten Harmoniemissionen. Diese unterscheiden sich von anderen Nebenquests darin, dass sie komplett vertont sind und eine zusammenhängende Geschichte erzählen. So hat jeder Charakter, der mit ins Team von maximal vier Leuten aufgenommen werden kann, seine eigenen Missionen. Dort werden kleine Geschichten erzählt, die mehr über die Beweggründe der Figuren verraten. Neben der Hauptgeschichte bekommt man so viele kleinere Nebengeschichten geboten. Egal ob Stadtgeschichte, Hauptmission oder Harmoniemission - das Questdesign bleibt hingegen immer auf demselben rudimentären Level. Meistens muss irgendwas oder irgendwer gesammelt, gefunden oder getötet werden. Seltene Ausnahmen bestätigen die Regel.
In einem Land nach unserer Zeit
Wesentlich mehr Zeit als in NLA werdet ihr allerdings auf dem Planeten Mira verbringen. Hier zieht Xenoblade Chronicles X alle Register. Mira besteht aus insgesamt fünf Kontinenten, die allesamt ihre eigene Flora und Fauna besitzen. Diese Kontinente sind im wahrsten Sinne des Wortes gigantisch. Gerade zu Beginn wird man von diesen offenen Welten regelrecht erschlagen. Es gibt wenige Spiele, die eine größere Open World besitzen. Dabei verbindet Monolith Software auf Mira die schiere Größe des Planeten mit einem unfassbar gelungenen Leveldesign. So ist jeder Punkt, den ihr sehen könnt, irgendwann und/oder irgendwie erreichbar. Es gibt keine (un-)sichtbaren Grenzen oder Wände. Die Kontinente an sich sind dabei nicht nur in der Horizontalen sehr ausladend, sondern auch sehr stark vertikal gestaltet. Es gibt riesige Berge und Hochebenen mit beeindruckenden Wasserfällen, genauso wie tiefe Klüfte und Höhlen bis ins heiße Innere des Planeten.Einen nicht geringen Teil der Spielzeit verbringt ihr deswegen mit Erforschen. Nicht selten müsst ihr im Rahmen einer Quest eine Stelle erreichen, die Hunderte von Metern über eurer aktuellen Position liegt. Nun gilt es zum Beispiel eine Bergkette genau zu erkunden, um einen kleinen Trampelpfad zu entdecken, der zum Gipfel führt. Dabei stellt euch das Spiel allerdings auch Hilfsmittel zur Verfügung. So verfügt ihr über eine kleine Kameradrohne, die jederzeit hoch in den Himmel geschossen werden kann. So könnt ihr euch aus der Luft einen Eindruck über eure aktuelle Lage verschaffen und eventuelle Zugänge leichter entdecken. Ziemlich früh im Storyverlauf bekommt ihr zudem von einem gewissen Möchtegern-Heropon (ihr wisst schon, diese knuffigen kleinen Wollknäul, die in Xenoblade Chronicles garantiert niemanden genervt haben) eine mächtige Nopontechnologie ausgeliehen, die euch den Weg zum nächsten Ziel erleuchtet, wenn ihr das möchtet. Trotz dieser beiden Hilfsmittel wird die Erkundung allerdings nie zum Selbstläufer. Zumal manche Orte erst mit den sogenannten Skells erreichbar werden. Das sind riesige Mechs, die euch nach gut zwei Dutzend Spielstunden zugänglich werden, und eine wesentlich schnellere Bewegung, höhere Sprünge und schließlich auch richtige Flüge ermöglichen. Das Weltdesign ist also große Klasse. Es dürfte schwierig sein ein Spiel zu finden, das eine riesige Open World mit dichtem Leveldesign so gelungen verbindet wie Xenoblade Chronicles X.
Die Tierwelt in Mira steht dem Weltdesign nicht nach. Je nach Kontinent bevölkern diverse Tier- und Alienarten den Planeten – von der kleinen, „nur“ einen Meter großen Motte, bis hin zum gigantischen Dinosaurier, dessen Fuß bereits größer ist als euer Charakter. Dabei sind viele Bewohner von Mira ziemlich friedvoll und tun euch nichts, solang ihr sie nicht provoziert. Das Spiel ist hierbei glücklicherweise so gnädig und zeigt euch an, welches Level ein Bewohner Miras besitzt, und auch, ob er euch angreift, wenn ihr in sein Sichtfeld kommt, oder euch ihm nähert. Das ist auch wirklich notwendig, denn bereits sehr früh werdet ihr auf starke Gegner treffen, denen ihr hoffnungslos unterlegen seid, wenn sie euch erspähen. Auf Mira gilt das Recht des Stärkeren und die Menschen stehen da nicht gerade an der Spitze der Nahrungskette. Gerade am Anfang werdet ihr sehr oft rennen, weil ihr den Level 80 Affen nicht gesehen habt, der euch unverschämter Weise beim Massakrieren von Babyschweinen stört. Das ist besonders ärgerlich, da Letzteres besonders viel Spaß macht. Hier kommt nämlich das großartige Kampfsystem zum Zug.
HEY, LISTEN!
In den Grundzügen spielt sich das Kampfsystem ähnlich wie bei Xenoblade Chronicles, mit einigen feinen Änderungen, die man wohl ohne weiteres als Gamechanger bezeichnen kann. Wenn ein Kampf eröffnet wird, greift der Charakter automatisch mit seinen Waffen den Gegner oder auch einzelne Gliedmaße des Gegners an. Hierbei hat er immer eine Fernkampf- und eine Nahkampfwaffe zur Verfügung, die per Knopfdruck gewechselt werden können. Um den Kampf nun zu gewinnen, werden mit diesen Waffen Techniken ausgelöst, die entweder die Gruppe stärken, den Gegner schwächen oder ihm Schaden zufügen. So weit, so bekannt. Xenoblade Chronicles X fügt nun dem Kampfsystem die sogenannten Kampfrufe hinzu. Dies sind Ausrufe einzelner Gruppenmitglieder, die bei speziellen Situationen getriggert werden, kampfentscheidend sein können und es spätestens bei den Bossen auch sind – X ist nämlich ein ziemlich forderndes Rollenspiel. Ein Beispiel: Ihr habt Elma in eurer Gruppe und kämpft mit ihr gegen einen Riesenskorpion. Zudem habt ihr der Gruppe den Befehl gegeben, die Angriffe auf den Schwanz zu fokussieren. Nun landet Elma bei diesem Kampf den entscheidenden Treffer und zerstört dieses Gliedmaß. Sie schreit nun den Nahkampfkampfruf „Gliedmaße zerstört! Zum Angriff!“, was auch visuell angezeigt wird. Für die nächsten paar Sekunden richtet nun die nächste Nahkampftechnik, die euer Charakter einsetzt, 150% mehr Schaden an, wenn ihr von hinten angreift sogar ganze 400%! Ihr habt aber auch Lin in der Gruppe. Zerstört sie den Schwanz, so fordert sie die Gruppe auf Schwächungstechniken einzusetzen, die nun wesentlich wirkungsvoller sind. Durch die Kampfrufe wird das Angriffssystem sehr dynamisch. Während man bei Xenoblade Chronicles noch die Rotation der einzelnen Techniken perfektioniert hat, bringt euch X immer wieder in Situationen, in der ihr Entscheidungen treffen müsst. Brecht ihr die aktuelle Fernkampfkombi ab, um auf einen Nahkampfkampfruf zu antworten? Wartet ihr ab, bis die Stärkungstechnik, die euch einen Schadensbuff bringt, komplett auf Level 2 aufgeladen ist, oder antwortet ihr auf den Stärkungskampfruf von Irina, wodurch zwar der Schadensbuff schwächer wird, ihr aber zusätzlich noch besser ausweicht? Durch diese Dynamik spielt sich jeder einzelne Kampf, auch gegen gleiche Gegner, ein bisschen anders.Dies wird noch dadurch verstärkt, dass der Spielercharakter, der in diesem Spiel als Avatar konzipiert ist, frei zwischen vielen verschiedenen Klassen wählen kann. Diese Klassen benutzen spezielle Waffengattungen, an die die Techniken gekoppelt sind. Die Photonenklingen haben eigene Techniken, die Sturmgewehre genauso. Insgesamt gibt es je 6 Fern- und Nahkampfwaffengattungen. Hinzu kommen noch die Skells, mit denen man auch kämpfen kann und bei einigen Gegnern sogar sollte, da auch die Waffen der Skells eigenen Kampftechniken besitzen. All das zusammen führt dazu, dass Xenoblade Chronicles X wohl eines der komplexesten, aber auch eines der besten Kampfsysteme hat, die jemals in einem japanischen Rollenspiel geschaffen worden sind. Selbst nach über 100 Stunden Spielzeit könnt ihr immer noch neue Klassen und Waffen perfektionieren und neue Techniken ausprobieren. Dadurch wird die Routine, die sich zwangsläufig einspielen muss, immer wieder aufgebrochen.
An dieser Stelle soll noch kurz auf den Multiplayer-Part eingegangen werden. Hier gibt es verschiedene Elemente, die eine interessante Rolle spielen. So ist es zum Beispiel möglich, ähnlich wie in den "Souls"-Spielen, Avatare von Freunden und Fremden zu rekrutieren. Diese bleiben für eine gewisse Zeit in der Gruppe und werden von der KI gesteuert. Gerade höherstufige Avatare sind dabei perfekt für den Bosskampf, welchen man einfach nicht schaffen will. Zudem spielen immer 32 Spieler zusammen in einem Squad. Hier spielt jeder in seiner eigenen Welt, es kommt also kein MMO Feeling auf, jedoch bekommt man vom Spiel regelmäßig Jagdmissionen gestellt, bei denen die erlegten Monster von allen Spielern zusammengerechnet werden, und die spezielle Belohnungen bringen. Es ist aber auch möglich, zusammen mit anderen Spielern, auf spezielle Online-Missionen zu gehen, bei denen man, ähnlich wie bei Monster Hunter, zusammen spielt und diverse Questziele erfüllen muss. Trotzdem drängt sich der Multiplayer Part nicht stark in den Vordergrund. X ist kein MMO und will auch keins sein. Vielmehr ist er eine sehr sinnvolle Ergänzung, die sich nahtlos und passend in die Welt einfügt.
Was hast du gesagt?
Ist Xenoblade Chronicles X nun das perfekte Spiel? Mit Sicherheit nicht. Dazu leistet sich das Spiel schon einige Schnitzer. Besonders ist hier die Tonabmischung hervorzuheben. Über den Soundtrack ist im Vorfeld des Spiels auch stark gestritten worden, letztendlich ist es halt Geschmackssache, ob man auf Rap-Lyrics und Vocals in Kampftracks steht. Und außerhalb der Kämpfe erzeugt der Soundtrack auch sehr oft eine nahezu magische Science-Fiction Stimmung. Wer aber auch immer auf die Idee gekommen ist, während Zwischensequenzen, in denen geredet wird, einen Vocaltrack als Unterlegung zu benutzen, gehört nie wieder in die Nähe eines Tonstudios gelassen. Das Ganze wird dadurch noch verschlimmert, dass die Abmischung wirklich schlecht ist und der Vocaltrack sehr laut, wodurch die Gepräche ohne Untertitel quasi nicht mehr verständlich sind. Diese Sequenzen kommen nicht so oft vor, aber oft genug, um ein wirkliches Ärgernis zu sein. Nachladende Texturen oder Popups kommen vor allen in NLA öfter mal vor. Auf Mira fallen sie hingegen kaum bis gar nicht auf. Zudem läuft das Spiel sehr flüssig und, auch das sollte gesagt sein, ist quasi bugfrei.Ebenfalls sehr gewöhnungsbedürftig ist die Tatsache, dass viele Gegner keine Kollisionsabfrage besitzen, ihr also einfach durchrennen oder mal mitten im Schwein stehen bleiben könnt. Auch die Inszenierung und das Questdesign der vielen kleinen Geschichten abseits der Haupthandlung hätte Monolith besser lösen können. Den Umgang mit den Amiibos hat Nintendo allerdings elegant gelöst: Sie spielen schlicht keine Rolle.